Dr. Else Liefmann
Die Kinderärztin DR. ELSE LIEFMANN wurde am 25. Mai 1881 geboren. Sie wohnte mit ihren Geschwistern PROFESSOR DR. ROBERT LIEFMANN und MARTHA LIEFMANN in der Goethestraße 33 in Freiburg. Im Jahr 1885 zogen die Eltern, Kaufmann Semmy Liefmann und Auguste Juliane Liefmann, mit ihren fünf Kindern von Hamburg nach Freiburg, so dass das Haus in der Goethestraße bis Oktober 1940 Heimat der Familie war. Nach dem frühen Tod der Geschwister Karl Alfred (* 1875) und Harry (* 1877) und dem Tod der Eltern übernahmen die ledigen Kinder ROBERT, MARTHA und ELSE das LIEFMANN-Anwesen. Wie alle Kinder der Familie genoss ELSE LIEFMANN eine gute schulische Ausbildung. Nach dem Abitur schloss sie nicht nur ein Medizinstudium mit Promotion ab, sondern ebenso ein Pädagogikstudium. 1915 ließ sie sich als Kinderärztin in Freiburg nieder, war aber auch pädagogisch als Lehrerin für Gesundheitslehre an der Mädchenschule tätig. 1919 bis 1922 war sie als Ratsfrau der Deutschen Demokratischen Partei im Freiburger Stadtrat. Engagiert in der Sozialpolitik schlug sie im Inflationsjahr 1923 vor, fahrbare Suppenküchen für die hungernde Bevölkerung einzurichten.
Bis 1933 gehörten die LIEFMANNs als eine akademisch gebildete, politisch engagierte und wirtschaftlich erfolgreiche Familie zu den geachteten und integrierten Bürgern Freiburgs. Dann trafen auch sie die anti-jüdischen Maßnahmen der Nationalsozialisten. Die Eltern hatten zwar die jüdische Gemeinde verlassen und ihre Kinder evangelisch taufen lassen, dennoch wurden sie aus Beruf und Universität ausgeschlossen: ELSE LIEFMANN verlor 1933 ihre ärztliche Kassenzulassung und ihren Lehrauftrag an der Mädchenschule, ROBERT LIEFMANN erhielt Lehr- und Publikationsverbot und wurde zwangsemeritiert.
Eine Auswanderung zogen die LIEFMANNs aufgrund ihrer heimatlichen Verbundenheit mit Freiburg jedoch nicht in Erwägung. Zwar hatte ein Gestapo-Mitarbeiter noch 1939 versichert, dass ihnen nichts geschehen würde. Dennoch wurden die drei Geschwister am 22. Oktober 1940 verhaftet und nach Gurs deportiert. Ihr Vermögen wurde beschlagnahmt, ihr Besitz verkauft, ihr Haus vom Deutschen Reich enteignet.
Über die Situation im Deportationszug teilen sie mit: „Für uns persönlich verlief die zwei Tage und Nächte währende Reise relativ gut ( … ) Die Begleitmannschaft im Zug waren SS-Leute. Fragt mich nicht, wie sie sich benahmen in diesen letzten Stunden, bis sie in Lyon verschwanden, nachdem sie ihre diebischen und sadistischen Instinkte an den Wehrlosen ausgelassen hatten“ (Quelle 38, S. 17). ELSE LIEFMANN wurde sogleich als Ärztin in der Krankenbaracke aktiv. „Unsere Lage ist schrecklich(…) Die Anzahl der Dysenterien (Durchfall/Ruhr M.M.)) ist groß und keine Möglichkeit der Desinfektion. In ROBERTs Bezirk herrscht Typhus“, schildert ELSE LIEFMANN in einem Brief vom 18.11.1940 die Situation (Quelle 50, S. 31 ). In zahlreichen Briefen stellte sie Überlegungen zu Hilfsaktionen an und informierte über den Verbleib von gesuchten Personen und Hilfsbedürftigen
Unter Vermittlung des Flüchtlingssekretärs des Ökumenischen Rates in Genf, Adolf Freudenberg (einem Verwandten), gelang es schließlich im Februar 1941, einen Erholungsurlaub für die LIEFMANNs zu bewilligen. ELSE LIEFMANN konnte am 7.3.1941 das Lager verlassen, eine Woche später folgten MARTHA und ROBERT LIEFMANN in das nahe gelegene Morlaas. Dort starb ROBERT LIEFMANN am 20. März 1941, wahrscheinlich an einer Blutvergiftung. Auch in Morlaas waren die Geschwister nicht vor dem Zugriff der Nationalsozialisten sicher; sie bemühten sich weiterhin um eine Ausreise in die Schweiz. Am 8. April 1941 erhielt MARTHA LIEFMANN eine offizielle Einreisebewilligung in die Alpenrepublik und verließ am 25. April 1941 Morlaas Richtung Genf, ELSE LIEFMANN blieb allein zurück. Ihre Lage wurde dort durch antisemitische Vorfälle in Morlaas und die Verschärfung der Bestimmungen, die die Beurlaubungen vom Lager Gurs betrafen, immer bedrohlicher. „Sie hatten den Eindruck, dass mit ihnen gespielt wurde. Alter und Krankheit hatten keine Bedeutung. Familien, Ehepaare wurden auseinander gerissen. ( … ) Das Unglück um mich herum traf mich wie ein Alpdruck“ schreibt sie (Quelle 38, S. 82). Schließlich erhielt sie die Genehmigung für eine Umsiedlung in ein anderes Departement und zog am 16.12.1941 nach Dieulefit.
Von dort aus gelang ELSE LIEFMANN im September 1942 mit Hilfe von Fluchthelfern über die Berge Savoyens die illegale Einreise in die Schweiz. Es war eine gefährliche Flucht, die Gefahr war ihr aber offenbar nicht bewusst. ELSE LIEFMANN blieb mit ihrer Schwester MARTHA in der Schweiz wohnen. Auf die Wiedererlangung der deutschen Staatsbürgerschaft verzichteten sie. MARTHA LIEFMANN starb 1952 in Zürich. ELSE LIEFMANN erhielt 1956 die schweizerische Staatsbürgerschaft. Ihr Buch Helle Lichter auf dunklem Grund erschien 1966. Darin schildern die Geschwister die Erinnerungen, die sie aus den Jahren 1940 bis 1942 in ihr weiteres Leben mitgenommen haben. „Ich möchte also mehr berichten von Selbstlosigkeit und Nächstenliebe als von Bosheit und Gemeinheit, wenn sie auch nicht verschwiegen werden. Ich möchte zeigen, wie im allerunscheinbarsten Menschen jener Geist lebendig war, der schon im dritten Buch Mose 19, 18 zum ersten Mal beschworen wurde: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.“ Solche Erfahrungen waren für uns, meine Geschwister und mich, unvergesslich“, schreibt ELSE LIEFMANN in der Einleitung des Buches (Quelle 38, S. 39), welches sie der Schweizer und Deutschen Jugend widmete. DR. ELSE LIEFMANN starb am 24. Mai 1970 im Alter von 89 Jahren in Zürich.
Ein Denkmal der besonderen Art und der Nächstenliebe hat den Schwestern MARTHA und ELSE LIEFMANN das in Gurs inhaftierte und später gerettete damals dreizehnjährige Mädchen Laure Schindler in ihrem Buch Der unmögliche Abschied (Quelle 51) gesetzt. Sie schreibt:
„Mir zum Beispiel kam ihr außergewöhnliches Verhalten sehr zugute. Sie haben es mir nicht nur ermöglicht, körperlich gesund zu überleben, sondern sie haben auch in gewisser Weise die Seele dieses kleinen Mädchens gerettet, indem sie sich mit mir beschäftigt und mir beigebracht haben, vor allem die Schönheit der umliegenden Berge und der eindrucksvollen Sonnenuntergänge schätzen zu lernen – einen Anblick, den uns hinter unseren Stacheldrahtzäunen niemand nehmen konnte. Je mehr sich unser Verhältnis vertiefte, desto mehr lernte ich auch von ihnen: So erklärten sie mir unter anderem, dass es weder für die Schönheit der Natur noch für den menschlichen Geist irgendwelche Zäune und Grenzen gebe. Sie erleichterten mir einerseits das tägliche Leben im Lager, wie es meine Mutter (…) auch getan hätte; andererseits stärkten sie mein seelisches Gleichgewicht, wozu mein Vater in seinem geschwächten Zustand nicht mehr in der Lage war. ( … ) Elsie und Martha errichteten für mich eine Art Parallelwelt, in der das Kind, das ich war, auf nichts verzichten musste und praktisch nicht mehr unter dem Fehlen einer richtigen Familie zu leiden hatte. Indem sie, im Rahmen des Möglichen, in meinem Leben den Platz der Eltern einnahmen, die ihre Kinder schützten, gelang es ihnen, mich auch wieder zum Lachen zu bringen und mich vor dem Schlimmsten zu bewahren: der Einsamkeit. ( … )
Vor 55 Jahren sind Martha und Elsie in meine Erinnerung eingegangen als Mitglieder meiner Familie, die von der Shoah ausgelöscht wurden. (…) 55 Jahre später fand ich zufällig heraus, dass auch sie den Holocaust überlebt hatten. ( … )
Lieben taten mich beide, und sie versuchten unaufhörlich, mich zu trösten. So hatten wir insbesondere unseren ganz eigenen Berg. (…) Seine beeindruckende Schönheit, wie majestätisch er vor allem bei Sonnenuntergang da lag, gab mir die nötige Kraft sowie ein Gefühl von Stabilität, Unerschütterlichkeit und innerem Frieden, so dass ich für einen Augenblick den Ort ganz vergessen konnte, wo ich zu leben gezwungen war. Ich denke auch, dass meine Leidenschaft für die Berge von jenem Ort herrührt, wo ich hinter Stacheldraht, der magere Körper bedeckt mit Läusen, eingeschlossen war und oft schreckliche Angst empfand. Martha und Elsie haben mir geholfen, dass ich den Boden nicht unter den Füßen verloren habe. Erst 55 Jahre später erfuhr ich auch ihren Familiennamen, Liefmann. Ansonsten waren sie für mich einfach Martha und Elsie, meine Schutzengel“ (Quelle 51, S. 97ff.).
The pediatrician DR. ELSE LIEFMANN was born on May 25, 1881. She lived with her siblings PROFESSOR DR. ROBERT LIEFMANN and MARTHA LIEFMANN at 33 Goethestraße in Freiburg. In 1885 her parents, merchant Semmy Liefmann and Auguste Juliane Liefmann, moved with their five children from Hamburg to Freiburg, so that the house in Goethestraße was home to the family until October 1940. After the early death of her siblings Karl Alfred (*1875) and Harry (*1877) and the death of their parents, the unmarried children ROBERT, MARTHA and ELSE took over the LIEFMANN property. Like all the children of the family, ELSE LIEFMANN enjoyed a good school education. After graduating from high school, she not only completed her medical studies with a doctorate, but also her studies in education. In 1915 she settled in Freiburg as a pediatrician, but was also pedagogically active as a teacher of health education at the girls‘ school. From 1919 to 1922 she was a councilwoman of the German Democratic Party in the Freiburg City Council. Committed to social policy, she proposed the establishment of mobile soup kitchens for the starving population in 1923, the year of inflation.
Until 1933, the LIEFMANNs, as an academically educated, politically committed and economically successful family, were among the most respected and integrated citizens of Freiburg. Then they too were hit by the anti-Jewish measures of the National Socialists. Although her parents had left the Jewish community and had their children baptized as Protestants, they were nevertheless excluded from their professions and the university: ELSE LIEFMANN lost her medical license and her teaching position at the girls‘ school in 1933, and ROBERT LIEFMANN was banned from teaching and was forcibly demerited.
However, the LIEFMANNs did not consider emigrating because of their close ties to Freiburg. A Gestapo official had assured them in 1939 that nothing would happen to them. Nevertheless, the three siblings were arrested on October 22, 1940 and deported to Gurs. Their property was confiscated, their possessions sold, and their house expropriated by the German Reich.
About the situation on the deportation train they stated: „For us personally, the two-day and two-night journey went relatively well ( … ) The escorts on the train were SS men. Don’t ask me how they behaved in those last hours until they disappeared in Lyon, having vented their thieving and sadistic instincts on the defenseless“ (Source 38, p. 17). ELSE LIEFMANN immediately became active as a doctor in the sick barracks. „Our situation is terrible(…) The number of dysenteries (diarrhea/Ruhr M.M.)) is great and there is no way of disinfecting them. In ROBERT’s district there is typhus,“ ELSE LIEFMANN described the situation in a letter dated 18.11.1940 (Source 50, p. 31 ). In numerous letters, she gave thought to relief actions and provided information on the whereabouts of wanted persons and those in need of help
Through the mediation of the refugee secretary of the Ecumenical Council in Geneva, Adolf Freudenberg (a relative), it was finally possible in February 1941 to grant a leave of absence for the LIEFMANNs. ELSE LIEFMANN was able to leave the camp on March 7, 1941, followed a week later by MARTHA and ROBERT LIEFMANN to nearby Morlaas. ROBERT LIEFMANN died there on March 20, 1941, probably from blood poisoning. Even in Morlaas, the siblings were not safe from the grasp of the National Socialists, so they continued their efforts to emigrate to Switzerland. On April 8, 1941, MARTHA LIEFMANN received an official entry permit to Switzerland and left Morlaas for Geneva on April 25, 1941; ELSE LIEFMANN remained behind alone. Her situation there became increasingly threatening due to anti-Semitic incidents in Morlaas and the tightening of regulations concerning leaves of absence from the Gurs camp. „They had the impression that they were being played with. Age and illness had no meaning. Families, married couples were torn apart. ( … ) The misfortune around me hit me like a nightmare“ she writes (Source 38, p. 82). Finally, she received permission to relocate to another department and moved to Dieulefit on December 16, 1941.
From there, ELSE LIEFMANN managed to illegally enter Switzerland in September 1942 with the help of escape helpers over the mountains of Savoy. It was a dangerous escape, but she was apparently unaware of the danger. ELSE LIEFMANN stayed in Switzerland with her sister MARTHA. They renounced the re-acquisition of German citizenship. MARTHA LIEFMANN died in Zurich in 1952. ELSE LIEFMANN received Swiss citizenship in 1956.
Their book Helle Lichter auf dunklem Grund (Bright Lights on a Dark Ground) was published in 1966, in which the siblings describe the memories they took with them from the years 1940 to 1942 into the rest of their lives. „So I want to talk more about selflessness and charity than about malice and meanness, although they are not concealed. I want to show how, in the most unlikely person, that spirit was alive which was first invoked in the third book of Deuteronomy 19:18: „Love thy neighbor as thyself.“ Such experiences were unforgettable for us, my brothers and sisters and me,“ writes ELSE LIEFMANN in the introduction of the book (Source 38, p. 39) which she dedicated to the Swiss and German youth. DR. ELSE LIEFMANN died in Zurich on May 24, 1970, at the age of 89.
A monument of a special kind and of charity was set to the sisters MARTHA and ELSE LIEFMANN by the then thirteen-year-old girl Laure Schindler, who was imprisoned in Gurs and later rescued, in her book Der unmögliche Abschied (Source 51). She writes:
„I, for one, benefited greatly from their exceptional behavior. Not only did they enable me to survive in good physical health, but they also, in a way, saved this little girl’s soul by spending time with me and teaching me to appreciate, above all, the beauty of the surrounding mountains and the impressive sunsets – a sight that no one could take away from us behind our barbed wire fences. The more our relationship deepened, the more I learned from them as well: among other things, they explained to me that there were no fences or boundaries for either the beauty of nature or the human spirit. On the one hand, they made my daily life in the camp easier, as my mother (…) would have done; on the other hand, they strengthened my mental balance, which my father, in his weakened condition, was no longer able to do. ( … ) Elsie and Martha established a kind of parallel world for me, in which the child that I was did not have to do without anything and practically no longer had to suffer from the lack of a real family. By taking, as far as possible, the place in my life of parents who protected their children, they also managed to make me laugh again and to save me from the worst: loneliness. ( … )
Fifty-five years ago, Martha and Elsie entered my memory as members of my family who were wiped out by the Shoah. ( … ) 55 years later I found out by chance that they too had survived the Holocaust. ( … )
They both loved me, and they tried ceaselessly to comfort me. So we had our very own mountain in particular. (…) Its impressive beauty, how majestically it lay there, especially at sunset, gave me the necessary strength as well as a feeling of stability, unshakability and inner peace, so that for a moment I could completely forget the place where I was forced to live. I also think that my passion for the mountains comes from that place where I was locked behind barbed wire, my skinny body covered with lice, and often terribly afraid. Martha and Elsie helped me not to lose the ground under my feet. It wasn’t until 55 years later that I also learned their family name, Liefmann. Otherwise, they were simply Martha and Elsie for me, my guardian angels“ (Source 51, p. 97ff.).