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Fanny Grötzinger

FANNY GRÖTZINGER wurde am 7.Oktober 1863 in Hüffenhardt geboren. Sie war verheiratet mit dem gleichnamigen Fabrikanten Josef Grötzinger und behielt somit ihren Mädchennamen. Sie brachte fünf Kinder zur Welt, von denen aber nur die Tochter Martha (*28.Dezember 1890 in Siegelsbach) überlebte. Ein Sohn war als junger Mann gestorben, drei kleine Kinder hatte die Diphtherie getötet.

Martha heiratete den Pädagogen Robert Lais (*1.März 1886 in Freiburg, gestorben 1945). Sie hatten die gemeinsame Tochter Renate, die ihre Großmutter wie folgt beschreibt:

„Sie hat sich gerne schön angezogen, sie hatte schon früh weiße Haare, oft trug sie schwarz und ein dunkles Lila, weil es sich schickte, auch lange Kleider. Sie war sehr fleißig und tüchtig, perfekt, alles erledigte sie schnell. Sie konnte wunderbar backen, gut häkeln und gut stricken. Sie war sehr temperamentvoll und sehr dominant und sie liebte mich über alles und bewunderte mich. Sie empfand sich als zu dick, sie hat gern gut gegessen. Sie war eine lebendige Frau und eine Dame, obwohl sie nur Volksschule hatte. Das empfand sie als Mangel. Ihre Mutter konnte keine deutschen Buchstaben. nur hebräisch. Sie hat es sehr bedauert, dass sie keine bessere Schulbildung hatte und hat dafür gesorgt, dass ihre Tochter Martha auf die Höhere Töchterschule gehen konnte, das heutige Goethe-Gymnasium in Freiburg. Meine Großmutter hat immer Angst um mich ge­habt, das war oft total schwer für mich.“

Ihr Vermögen hatte sie in der Inflation verloren. „Trotzdem war sie nicht verbittert, klagte und jammerte auch nie“, erinnert sich die Enkelin an ihre sehr vitale, tüchtige, beeindruckende und fleißige Großmutter mit ihren funkelnden braunen Augen, die jeden Morgen um sieben Uhr aufstand.

FANNY GRÖTZINGER bekam am Dienstag, dem 22.Oktober 1940 – sie war zu diesem Zeitpunkt bereits Witwe – die Aufforderung, ihren Koffer zur Deportation zu packen. Ihre Tochter und ihre Enkelin begleiteten sie zum Annakirchplatz, der Sammelstelle. Der Schwiegersohn von FANNY GRÖTZINGER sagte zu seiner Tochter Renate: „Damit Du siehst, wie Menschen mit Menschen umgehen.“ Lili Reckendorf, selbst eine nach Gurs Deportierte, beschreibt diese Situation wie folgt: „Eine alte Dame aus der Nachbarschaft wurde von ihrer Tochter hinbegleitet. Sie, die mit einem Arier verheiratet war und ein Kind hatte, konnte bleiben. Sie trug der Mutter das Gepäck. Kann man sich überhaupt vorstellen, was diese Menschen innerlich durchmachten?“ (Quelle 36, S. 272).

FANNY GRÖTZINGER kam nicht in die ersten Züge Richtung Gurs. Zusammen mit anderen Zurückgebliebenen musste sie vom Bahnsteig wieder in die Schule im Stühlinger gehen und dort über Nacht in der Turnhalle bleiben. Am Vormittag des nächsten Tages besuchte ihre Tochter sie dort noch einmal und brachte Vergessenes. Am Nachmittag gingen die Tochter Martha und deren Mann Robert Lais noch einmal in die Turnhalle der Stühlinger Schule. Die Deportierten waren aber schon zum Abtransport auf den Güterbahnhof gebracht worden.

Die Erinnerungen von Renate Citron-Lais an den Morgen des 22.Ok­tober 1940 sind bis heute noch ganz deutlich. Es war jener Tag, an dem die Nationalsozialisten in Baden und der Saarpfalz über sechseinhalbtausend Menschen in das südwestfranzösische Internierungslager Gurs deportierten. Es war der Tag, an dem auch die damals 77jährige FANNY GRÖTZINGER verschleppt wurde, es war der Tag, an dem die Enkelin ihre Großmutter zum allerletzten Mal in ihrem Leben gesehen hat. Das damals 14jährige Mädchen befand sich an jenem Herbstmorgen in der Schule, dem heutigen Goethe-Gymnasium am Holzmarkt. Später Vormittag. „Es klopfte an der Tür unseres Klassenzimmers, der Hausmeister trat ein und sagte: Renate Lais, dein Vater hat angerufen, du sollst sofort nach Hause kommen“, erinnert sich die Enkelin und fünffache Mutter, als wir sie in ihrem Haus in Karlsruhe besu­chen. Mit dem Fahrrad machte sich die Schülerin schnell auf den Heimweg.

In der Wohnung am Goetheplatz 1 traf sie einen Mann in Zivilklei­dung und einen Polizisten an, der ihre Großmutter verhaftet hatte und sie bewachte. Eine Stunde wurde FANNY GRÖTZINGER Zeit gegeben, um einen Koffer zu packen, den sie selbst tragen konnte – mit Wäsche, Kleidern und Lebensmitteln für acht Tage. Alle Einwendungen und Bitten waren vergebens. Auch der Versuch, über ein Attest des Hausarztes die drohende Deportation zu verhindern, scheiterte. Man habe Befehl, alle nicht arisch verheirateten Juden zu verhaften, erklärte der Beamte unerbittlich. Da Renate selbst Tochter einer sogenannten ‚Mischehe‘ war, blieben sie und ihre Eltern von der Deportation verschont.

„Mein Vater wollte, dass ich meine Großmutter zusammen mit meiner Mutter zur Sammelstelle auf den Annaplatz begleite. Sie war äußerlich sehr gefasst“, erinnert sich Renate Citron-Lais. „Zeit zum Nachdenken war in diesem Augenblick nicht. Meine Großmutter liebte mich über alles, und es war selbstverständlich, dass ich sie begleite“. Ein schwerer Gang. Kaum angekommen, musste die alte Frau auf einen Lastwagen an der Südseite von St. Cyriak klettern, auf dem bereits weitere Gefangene saßen oder standen und auf den Abtransport warteten.

Gegen 12 Uhr an jenem 22.Oktober 1940 fuhr der Lastwagen mit der Großmutter fort. Es war das letzte Mal, dass Renate ihre Oma sah. „Wie betäubt kam ich wieder daheim an. Unsere Hausangestellte Irma öffnete mir die Tür, ich fiel ihr um den Hals und fing an zu weinen. Dann schloss ich mich in mein Zimmer ein.“ Trotz des Schmerzes und verschwollener Augen ging sie am nächsten Morgen in die Schule. Dort hatte sich das Schicksal ihrer Großmutter bereits herumgesprochen.

„Im Physiksaal kam mir Maria Rieger aus unserer Klasse entgegen und umarmte mich vor allen, das war damals sehr mutig. Die verbotenen Kontakte zur Großmutter in das Camp Gurs hatte zunächst GERTRUD LUCKNER hergestellt. Die Gestapo verwarnte meine Eltern scharf und drohend. Meinem Vater gelang es aber, kompliziertere, gangbare Wege für Kontakte zu FANNY GRÖTZINGER zu finden. Über Schweden konnte ihr dennoch ab und zu etwas Geld geschickt werden. Drei Briefe der Großmutter und ein jämmerliches Foto von ihr aus Gurs sind erhalten. In dem ersten Brief vom 14.Januar 1941 teilte sie mit, dass sie auf dem Boden schläft und in ihrem Wäscheschrank daheim Geld versteckt hat, für ein Geburtstagsgeschenk für mich. Im zweiten Brief vom 7.Juni 1941 gratuliert sie mir zum Geburtstag und geht ganz auf meine Welt ein, die Schule. Ihre Selbstlosigkeit treibt mir noch heute Tränen in die Augen. Der dritte Brief vom 1.Oktober 1942 ist an meinen Vater gerichtet, der ist aber so unleserlich und kaum zu entziffern.“

Der Postweg war kompliziert und ging über eine Tante in der Schweiz. Die Familie schickte regelmäßig Geld und Pakete nach Frankreich; ob sei bei der Großmutter ankamen, ist unklar. Alle Versuche, eine Entlassung der 77jährigen aus Gurs zu erreichen, blieben erfolglos.

Mehr als zwei Jahre überlebte FANNY GRÖTZINGER das Grauen des Lagers. Sie starb, fast 79jährig, am 2.Januar 1943 im Lager Noé nahe Gurs an einer Lungenentzündung. „Wir erfuhren recht zeitnah von ihrem Tod“, erinnert sich Renate Citron-Lais.

Bei der Recherche zur Verlegung eines STOLPERSTEINs für FANNY GRÖTZINGER hatten wir ein falsches Geburtsjahr in unseren Unterlagen. Somit war, nach unserer Information, FANNY GRÖTZINGER nicht 1863 sondern erst 1883 geboren. Nach der Verlegung bekam Marlis Meckel einen ziemlich erregten und wütenden Anruf von einer Frau aus Karlsruhe. Diese war so böse, weil sie sich empörte, dass auch so „alte“ Menschen deportiert wurden. Das Telefonat endete ohne Erklärungsmöglichkeit. Einige Tage später, wieder ein Anruf aus Karlsruhe, von derselben Dame. Sie stellte sich vor mit Namen: Renate Citron Lais, sie sei die Enkelin von FANNY GRÖTZINGER. Sie hätte gehört, dass die STOLPERSTEIN-Initiative eine ehrenamtliche Aktion sei. Sie wolle sich entschuldigen. Daraufhin gab es ein sehr gutes Gespräch und selbstverständlich würde es einen neuen STOLPERSTEIN mit dem richtigen Geburtsjahr geben. Der gute und freundschaftliche Kontakt zu FANNY GRÖTZINGERs Enkelin ist bis heute geblieben und hat sich auch auf die nachfolgenden Generationen übertragen. Siehe auch den Film von Malte Weber (Ururenkel von FANNY GRÖTZINGER).

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